Wir spielen Theater, indem wir nicht mehr Theater spielen

Ich lese gerade ein äußerst interessantes Buch. Der Autor ist Psychoanalytiker, und manch einer mag sich an den Begriffen aus der Welt der Psychoanalyse, die im Buch auftauchen, wie z.B. „narzisstisch“ oder „manische Abwehr“ stören, aber wenn man diese „wertfrei“ (ohne ideologischen Überbau), rein beschreibend liest und interpretiert, ist der Erkenntnisgewinn m.E. groß!

So hatte ich z.B. ein großes Aha-Erlebnis, ausgelöst durch den Begriff „manische Abwehr“. Was Schmidbauer als „manische Abwehr“ beschreibt, bezeichne ich ganz lapidar als „Fassade“, als die Maske, die jeder von uns im Alltag trägt und das (positive) Selbstbild, aus dem diese Maske sich speist, und dessen Aufrechterhaltung für viele oberste Priorität hat. Sofort fühlte ich mich an Erving Goffmans Buch „Wir alle spielen Theater“ (ein Klassiker der Mikrosoziologie) erinnert, in dem er eben genau die These vertritt, dass wir alle auf der Bühne des Lebens uns permanent selbst inszenieren, in verschiedenen Rollen, je nach Kontext.

Ich behaupte, dass das, was wir beim Impro-Theater tun, gerade ein Aushebeln dieser „manischen Abwehr“ ist, ein Fallenlassen der gesellschaftlichen Maske, die wir sonst tragen. Indem wir nämlich gerade versuchen, unseren „inneren Zensor“ auf die hinteren Reihen unseres Bewusstseins zu platzieren (vgl. hier), ist die Instanz, die für die Aufrechterhaltung der Fassade und der Alltags-Maske sorgt, für die Zeit des Improvisierens auf der Bühne oder im Training außer Kraft gesetzt. Das Theater, das wir sonst auf der sozialen Bühne spielen, spielen wir auf der Theaterbühne nicht mehr.

Das klingt erst einmal paradox. Denn die Idee, die viele vom Impro-Theater haben, ist ja, dass wir dort eine (Theater-)Rolle spielen. Und das stimmt ja auch. Idealerweise spielen wir im Impro eben gerade nicht uns selbst, sondern irgendeine Figur, die sich aus unseren Erfahrungen, Anteilen und Assoziationen speist. All diese Dinge liegen „hinter“ der Fassade und Maske, die wir im Alltag zeigen (auch wenn diese sich sicherlich aus den gleichen Quellen speist). Da wir auf Bühne im Idealfall durch die Figur „geschützt“ sind, gelingt es viel leichter, den Teil unseres Ichs „hinter der Maske“ zu offenbaren.* Im „Spielen“, dem wirklichen, kindlichen Spielen, fällt diese Fassade.

Wer bereit ist, sich darauf einzulassen, ist auch bereit, die Fassade / Maske der manischen Abwehr fallen zu lassen. Witzigerweise geschieht dies jedoch gerade nicht, indem wir uns selbst, nur ohne Maske und Fassade spielen, sondern indem wir eine Figur spielen – Theater eben! Ich denke, dass das eine sehr heilsame Kraft für die Seele entfalten kann, und deshalb „Impro-Theater“ regelrecht Balsam für die Seele sein kann. Wer den Muskel der äußeren, gesellschaftlichen Fassade (die „manische Abwehr“ laut Schmidbauer) stets angespannt hält, für den ist es eine Wohltat, diesen Muskel einmal zu entspannen.

 

*Wie immer soll das natürlich nicht als Freibrief verstanden werden, ungezügelt diskriminierende, sexistische, rassistische oder sonst wie abwertende Äußerungen auf der Bühne von sich zu geben. Gleichzeitig bedeutet es aber auch, andere Spieler nicht dafür abzuwerten, wenn ihnen doch einmal ungewollt mitten im Plappern etwas „politisch Inkorrektes“ heraus rutscht. Vielmehr betrachte ich das als eine gute Gelegenheit, solche Urteile und Vorurteile einmal in der Gruppe aufs Tapet zu bringen. Denn „da“ sind diese Dinge sowieso im Kopf der betreffenden Person. Weder verurteilen noch moralisieren noch ignorieren oder weg wünschen kann daran etwas ändern. Lediglich solche Urteile zu differenzieren, indem man darüber spricht, kann daran etwas ändern. Aber um an eine andere Person heran zu kommen und den Funken der Differenzierung zu entflammen, ist Abwertung und Verurteilung kein guter Einstieg (ich würde behaupten, sogar kontraproduktiv).

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