Die Macht des Perspektivwechsels

Heute gibt es mal einen Blogbeitrag, der nix mit Impro zu tun hat. Beate S. hat mich dazu „animiert“, diesen Blog-Beitrag zu schreiben, nachdem ich ihr folgende Geschichte erzählt habe: Mein Freund und ich wohnen jetzt seit gut acht oder neun Jahren in Nord-Neukölln, dem scheinbaren „Brennpunktkiez der Nation“ (zumindest wird das in den Medien immer wieder gerne heran gezogen – und ein bisschen ist es ja auch so). An unsere Wohnung schließt an einer Seite ein kleiner Fußballplatz (Bolzplatz) an, der auch regelmäßig von Kindern und Jugendlichen genutzt wird. Und es gibt eine Gruppe von vorwiegend arabischen jungen Männern*, die spielen dort auf diesem Platz m.E. nicht Fußball, sondern ich nenne es immer „Schreitherapie“, was diese Jugendlichen dort tun. Ich weiß nicht warum, aber die Aktivität auf dem Bolzplatz dient weniger der sportlichen Ertüchtigung, wie mir scheint (und es sieht auch nicht mega-dynamisch aus, wie die Jungs da hin und her kicken), sondern vorwiegend dazu, dass alle so laut und so lange wie möglich am Stück schreien. Wenn diese Gruppe auf dem Bolzplatz ist, mache ich normalerweise die Fenster der angrenzenden Räume zu und manchmal sogar noch die Türen zu den Zimmern, weil das Geschrei einfach so ohrenbetäubend ist.

Dieses Geschrei klingt in meinen Ohren bedrohlich, beängstigend, aggressiv, nach Status- und pubertärem Dominanz-Gehabe. Eklig. Und ich habe auch ein bisschen Angst, das gebe ich zu. Was auf der anderen Seite, so mein Eindruck, genau das zu sein scheint, was diese Jugendlichen erreichen wollen: Angst und Genervtsein bei den umliegenden Menschen auslösen. Was wiederum meinen Ärger über das Geschrei noch verstärkt.

Dann sah ich diese Woche im Fernsehen eine Reportage über eine türkische Sozialarbeitern, die hier im Kiez seit zehn Jahren mit Jugendlichen arbeitet. Und einer der ersten Sätze, die sie sagte, war: Dass die Jungs aus diesem „Milieu“, Kulturkreis, oder wie auch immer man das nennen will, total unfrei sind: Sie müssen sich teilweise darum kümmern, Geld für die Familien zu verdienen, sie müssen sich um die Schwestern kümmern, um die jüngeren Brüder, sie sollen / wollen einem bestimmten Männlichkeitsbild entsprechen, in der Clique gut ankommen, dabei sein und dazu gehören – m.a.W. sie haben eine unglaubliche Menge an sozialem Druck. Und dieser Druck macht sie unfrei. Diese Aussage war für mich ein großes Aha-Erlebnis! So hatte ich das noch nie gesehen… Bisher hatte ich meinem Fokus beim Thema „Unfreiheit“ bei Leuten aus dem arabischen Kulturkreis eher bei den Frauen (anschaulich illustriert hat dies jüngst der Film „Nur eine Frau“ von Sherry Hormann, der z.Zt. sogar noch in den Kinos läuft). Bei den arabischen Jungs habe ich immer gedacht, die hätten doch die absolute Narrenfreiheit, wären Paschas und könnten im Grunde machen, was sie wollen – teilweise, ohne Konsequenzen dafür zu befürchten. Natürlich war mir schon irgendwie klar, dass auch diese Jungs lebende, fühlende Wesen mit der Fähigkeit zu Nähe, Kontakt und Verbindung zu anderen Menschen sind, dass sie Nähe und Wärme und Zärtlichkeit brauchen wie jeder Mensch. Und dass es da natürlich auch schwache Anteile gibt, auch wenn sie diese in der Öffentlichkeit so gut es eben geht zu verbergen suchen. Und ich habe mich eben auch immer gewundert, wie es diesen Leuten wohl geht, wenn sie solche Anteile so krass zu verbergen suchen, bzw. wo und wie (in welchem Kontext) sie diese Anteile wohl ausleben… Und vor allem: Warum sie das tun. Warum tut es sich jemand freiwillig an, ganze Persönlichkeitsanteile von sich in der Öffentlichkeit so vehement zu verbergen? Das war für mich stets das größte Rätsel. Teilweise habe ich mich sogar gefragt: Oder haben die diese Anteile vielleicht doch nicht? Haben sie es wirklich geschafft, die so gut zu verdrängen?

Und diese Information, dass diese Jungs im Grunde tatsächlich so unfrei sind, war für mich wie ein Schlüssel zum Verständnis von deren (Lebens-)Welt. Oder sagen wir: Zumindest eine Eintrittspforte. Und plötzlich wurde mir klar, dass das Geschrei hier auf dem Bolzplatz (in genau diesem Augenblick schreien und grölen sie wieder, was das Zeug hält) wahrscheinlich in erster Linie der Versuch ist, sich ein winziges Stück Freiheit, ein winziges Stück persönlichen Ausdruck zu sichern in einer Welt, die von fast allen Seiten nur einengend ist. Sicherlich ist das Imponier- und Dominanz-Gehabe auch Teil des Auslösers für das Geschrei, aber ich glaube wirklich, dass dieser Moment des Schreiens buchstäblich ein „Frei-Schreien“, also tatsächlich eine Art Schreitherapie ist – genau wie übrigens das Rasen mit schnellen Autos auf der Straße. Schnell fahren erzeugt ebenfalls ein Gefühl von Freiheit, und ich könnte mir gut vorstellen, dass die Raserei hier auf den Straßen ein Ventil ist, diesen Freiheitsdrang zumindest ein bisschen auszuleben in einer Lebenswelt, die man sonst als außerordentlich einengend empfindet.

Und was ist durch diese Erkenntnis bei mir passiert? Ich habe gemerkt, dass – seit ich dieses Geschrei als einen Ausdruck eines Freiheitsdranges erkannt habe – es für mich positiver besetzt ist. Es ist noch genauso laut und im Prinzip genauso unangenehm und störend, aber es macht mich nicht mehr so wütend, ich ärgere mich nicht mehr so über diese Menschen und wünsche ihnen nicht mehr Pest und Cholera an den Hals, weil ich nicht mehr glaube, dass dahinter primär der Wunsch steht, die Nachbarn zu nerven und Angst und Schrecken zu verbreiten – sondern dies vor allem ein Ausdruck von Freiheit ist.

Ich weiß nicht, wie es Euch geht: Aber ich finde es normalerweise total schwer, so einen Perspektivwechsel vorzunehmen. Wenn nicht jemand kommt und mir das erklärt (wie jetzt in der Fernsehsendung) oder aus eigener Erfahrung berichtet, warum er was tut, wie er es tut, dann finde ich es mega-schwer, so einen Perspektivwechsel vorzunehmen. Klar mache ich mir meine Gedanken von „Was könnten noch Gründe sein? “ – „Warum verhält sich XY jetzt so, wie er / sie sich verhält?“ – „Was könnte eine andere Interpretation des Verhaltens sein, als die, an die ich glaube?“ – „Was könnten andere Motive für dieses Verhalten sein als die, die ich unterstelle?“ – aber all dies sind Gedankenspiele, Gedankenexperimente. Klar KÖNNTE es so sein. Aber das bringt mich nicht davon ab, an „meine“ Version der Realität zu glauben. Erst, wenn man das wirklich von jemand anders hört, dem man das glaubt (und die türkische Sozialarbeiterin in der Sendung wirkte auf mich sehr authentisch und glaubhaft), oder im Kontakt mit einem „Sparringspartner“, der selbst an die andere Interpretation glaubt, gelingt es mir, so einen Perspektivwechsel vorzunehmen. Wie geht es Euch damit? Gelingt es Euch, wie das ja z.B. im NLP propagiert wird, Eure Wahrnehmung und Interpretation der Realität zu verändern nur durch eigenes „Gedankenmachen“ und Herumtheoretisieren? Oder braucht Ihr auch jemand anderen dazu, der Euch auf diese Gedanken bringt?

Und wie Beate das auch schon sagte: Im Grunde hilft uns dieser Austausch, dieses Offenlegen der Befindlichkeiten zu mehr gegenseitiger Toleranz. Wenn wir nicht wissen, wie der andere tickt, weil wir ihn nicht kennen, nicht fragen oder weil er es nicht sagen will (oder glaubt sagen zu können), dann wird es schwer mit dem Verständnis füreinander, der Verständigung und dem sozialen Frieden.

 

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*Es ist gut möglich, dass meine Ausdrucksweise in diesem Artikel „nicht pc“ ist. Dafür kenne ich mich mit pc-ness zu wenig aus. Und ich bin auch kein Freund von pc-er Sprache, wenn das dahinter liegende Denken gleich bleibt – ich habe den Eindruck, das ist häufig der Fall. NLP-ler und Sprach-affine Menschen werden mir hier vielleicht widersprechen, aber ich denke eben nicht, dass nur allein die Sprache / das Benutzen einer anderen Sprache neue Realitäten schafft. Im Gegenteil: Wenn ich plötzlich sage, etwas ist „interessant“ anstatt, dass ich es scheiße oder schlecht finde, dann wird „interessant“ irgendwann zu einem Begriff, der abwertend gemeint ist (und es heißt ja bereits, „nett“ sei die kleine Schwester von scheiße). Denn die dahinter liegende Denke oder Haltung ändert sich ja nicht. Ich habe nur ein anderes Wort benutzt, einen Euphemismus, der etwas schöner und gefälliger klingen soll. Vgl. dazu auch mein Podcast-Interview mit Sarah Bansemer.

Und ein zweiter Gedanke zur pc-ness: ich finde, Dinge zu benennen ist nicht un-pc. Allerdings wird allein das Benennen (und damit Kategorisieren) bereits als diskriminierend empfunden, weil verkürzend, Komplexität nicht abbildend, nicht differenzierend zwischen verschiedenen Ausprägungen der gleichen Sache. Da ist sicherlich was dran. Aber wir brauchen Begriffe, um Dinge zu benennen. Und Begriffe können nur verkürzend sein, dass ist die Idee dahinter.

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