Einen ordentlichen Menschen versaut Erziehung

Eigentlich habe ich diesen Artikel bereits direkt im Anschluss an meinen letzten Artikel über „Schwäche“ geschrieben. Aber da ich noch nicht zufrieden mit ihm war, erblickt er erst jetzt das Licht der Welt. In gewisser Weise ist er eine Fortsetzung meines Artikels über „Schwäche“.

Schon seit Monaten geistert in meinem Kopf ein Artikel mit dem Titel „Einen ordentlichen Menschen versaut Erziehung“ (frei nach dem Spruch, der in meiner Schulzeit kursierte: Einen schönen Menschen entstellt Schminke – der übrigens m.E. nicht stimmt) herum. Und nun lese ich gerade, angereget von Dan Richters Video mit seinen zehn heißesten Impro-Buch empfehlungen, noch einmal das Kapitel „Spontanität“ im „grünen Buch“ von Keith Johnstone und stelle fest, dass Johnstone dort im Grunde schon alles geschrieben hat, was ich schreiben wollte… Nämlich, dass Schule uns hemmt und unseren schöpferischen Geist einengt, ja verkrüppelt. Wen dieses Thema interessiert, dem sei das entsprechende Kapitel in Johnstones Buch wärmstens ans Herz gelegt.

Mir ist das persönlich ganz krass noch einmal bewusst geworden, als ich im April diesen Jahres mit einem ehemaligen Mitschüler aus meiner Grundschule telefonierte. Dieser erzählte mir, dass er sich früher (wir reden von 3. / 4. Klasse) immer darauf gefreut hat, wenn ich eine Geschichte vorlesen durfte, da er fand, dass meine Geschichten immer so schön fantasievoll, lustig und kreativ waren. Und dass meiner Klassenlehrerin (Frau B., die inzwischen Rektorin an einer Neuköllner Grundschule ist – und ich bete zum Universum, dass sie diesen Job inzwischen entweder besser oder nicht mehr lange macht) das jedoch überhaupt nicht gefallen habe und sie mich daraufhin systematisch ausgegrenzt habe (heute würde man vielleicht den Begriff „Mobbing“ bemühen).

Ich erinnere mich an diese Zeit und an diese Vorfälle nicht mehr. Ich weiß nur, dass ich mich in der Grundschule tatsächlich meist hilflos und ausgegrenzt fühlte (wozu ich mit Sicherheit auch selbst einen Teil beigetragen habe – aber eigentlich finde ich, sollte es doch Aufgabe des Lehrpersonals sein, Kinder zu integrieren, statt auszugrenzen, wenn sie ihr nicht passen!?). Und dass mein ehem. Klassenkamerad Frau B. als „Drill Instructor“ bezeichnet hat und dass bei uns Recht und Ordnung herrschen mussten und zu viel Kreativität, Fantasie und Wildheit verpönt waren und abgestraft wurden. Und dass wir (in der 5. Klasse wir reden von 1989, dem Jahr, als die Mauer fiel) altdeutsche Schrift lernen mussten, weil unsere Lehrerin fand, dass wir alle so eine „Sauklaue“ haben. Und dass sie einzelne Kinder vorgeführt hat, indem sie deren „schluderig geführten“ Hefter nahm, an einem Blatt hoch hob und so die „lose Blattsammlung“ (wie ich mir dieses Wording gemerkt habe!) auf den Boden fiel. Und dies vor der ganzen Klasse. Was für eine Demütigung. Und da sie das aber häufig mit dem Klassenrowdy tat, war der Aufruhr seitens der anderen Mitschüler nicht besonders groß, sondern die Lacher auf Seiten der Lehrerin. Nochmal: Was für eine Demütigung. Anpassung wurde belohnt, „Anders-Sein“, Kreativ-Sein, Wild-Sein, Gegen den Strom Schwimmen wurde bestraft. Vielleicht nicht mehr mit dem Stock, aber mit Ausgrenzung und Demütigung. Dabei sind Kinder so sehr auf Anerkennung und Zugehörigkeit angewiesen, um ein gesundes Selbstwertgefühl zu entwickeln, so dass sie hier noch besser manipulierbar sind, als Erwachsene.

Aber ich schweife ab. Worauf ich eigentlich hinaus will, ist Folgendes – nämlich, warum „Erziehung“ den Menschen versaut. Denn Erziehung ist eigentlich jedes Mal die Botschaft: Du bist nicht so in Ordnung, wie Du bist. Du sollst anders sein. Dann mögen wir Dich. Und dieses Prinzip hinterlässt bleibende Schäden in fast jeder Seele, die diesem Prinzip ausgesetzt ist. Schule fördert i.d.R. nicht das selbstständige Denken und Handeln oder die Eigenverantwortung, leider nicht. Schule fördert Auswendig-Lernen und Anpassen, jedenfalls war es zu meiner Schulzeit so. Schule fördert ein Denken in Richtig und Falsch Kategorien und die Suche nach Fehlern (bei sich und anderen), und damit eine krasse Gehemmtheit in (fast) jedem Lebensbereich. Man muss schon ein sehr gutes und starkes (Familien-)Umfeld haben, um hier gut raus zu kommen (oder einen sog. „wissenden Zeugen“, wie Alice Miller ihn nennt).

All dies sind Dinge, Denkmuster, die man bei Menschen mit Depressionen findet: Extreme Bewertung, Denken in Schwarz-Weiß-Kategorien, Suche nach Fehlern bei sich und anderen, extreme Anpassung an andere bzw. an äußere Umstände. Provokativ könnte man behaupten, Schule fördere spätere Depressionen bei Menschen. Vielleicht nicht bei allen, aber doch bei vielen. In Therapien müssen diese Menschen dann mühevoll wieder lernen, dass „alles erlaubt“ ist (oder doch zumindest mehr, als sie denken) und wieder lernen, sich Dinge zu gestatten, den „inneren Zensor“ auszuschalten (genau wie beim Impro).

Wo ist der Punkt meines Artikels? Ich weiß es nicht, vielleicht wollte ich mich einfach nur mal auskotzen und schreiben, wie schlimm ich das alles finde. Und jetzt war einfach mal die Zeit dafür.  Ich bin leider kein Experte in diesem Bereich, aber der vielversprechendste Ansatz hier scheint mir der des dänischen Pädagogen Jesper Juul zu sein (aus dem Wikipedia-Artikel, Abruf 6.12.2020): „Der konventionellen Debatte um die ‚richtige‘ Erziehungsmethode liegt nach Juul parteiübergreifend eine Unterschätzung und Missachtung der sozialen Fähigkeiten des Kindes zugrunde. Jesper Juul ist der Meinung, dass Kinder vollwertige Menschen sind, die nicht erst durch Anweisungen, Verbote und Strafen geformt werden müssen. Das traditionelle Bild vom Kind als eines primitiven, dissozialen oder halbwilden Wesens, das durch geeignete Erziehungsmaßnahmen erst zum Menschen gemacht werden muss, lehnt er ab: ‚Kinder werden mit allen sozialen und menschlichen Eigenschaften geboren. Um diese weiterzuentwickeln, brauchen sie nichts als die Gegenwart von Erwachsenen, die sich menschlich und sozial verhalten. Jede Methode ist nicht nur überflüssig, sondern kontraproduktiv, weil sie die Kinder für ihre Nächsten zu Objekten macht.'“

Habt Ihr ähnliche Erfahrungen in Eurer Schulzeit gemacht, wie ich? Wenn ja, schreibt mir Eure Geschichten gerne in die Kommentare.

Und weil ich vermute, dass die These aus dem Titel bei einigen Leuten inneren Widerstand hervorruft, lasse ich ihn jetzt einfach mal so stehen (ich bin so ein Revuluzer 😉 ).

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2 thoughts on “Einen ordentlichen Menschen versaut Erziehung

  • By Sarah - Reply

    Danke für diesen Artikel. Da höre ich auch Maike Plath raus.:D Und ich bin da voll bei dir, Schule fördert in den seltensten Fällen Individualität, Selbständigkeit und freies Denken. Bei mir war es so, dass ich das alles von zuhause mitbekommen habe, ich hatte also das Glück einer kräftigenden Familie. In der Schule gab es dennoch viele Momente, die auch mir in Erinnerung geblieben sind. Schlimm fand ich, wenn mir unterstellt wurde, ich hätte eine Aufgabe nicht allein gemacht. Meine Mutter war selbst Lehrerin und hat uns immer gewarnt, dass wir das in der Schule niemandem sagen sollen, schon gar nicht den Lehrkräften. Leider wussten die das oft trotzdem und man hat es dann zu spüren bekommen. Wir sollten mal in der 5. Klasse eine Buchvorstellung machen. Es gab eine Art Ablaufplan, also was in der Buchvorstellung alles genannt werden soll. Ich habe das alles wie gewünscht erledigt und in der Schule vorgetragen.
    Daraufhin meinte die Lehrerin: „Das hast du aber nicht allein gemacht, Sarah, nicht wahr?“
    Ich (wahrheitsgemäß): „Doch.“
    Lehrerin: „Du kannst das ruhig zugeben, dass dir deine Mama geholfen hat.“
    Ich: „Ich hab das aber alleine gemacht.“
    … usw. Sie hat mir nicht geglaubt und ich konnte sie nicht davon überzeugen. Das war ein ganz schlimmes Gefühl der Machtlosigkeit.

    Es gab auch tolle Momente in der Schule, voller Unterstützung, Anerkennung und Kreativität. Aber das war ein Beispiel, das mir sehr negativ in Erinnerung geblieben ist.

    lg,
    Sarah

    • By Claudia - Reply

      Liebe Sarah, vielen Dank für Deinen Kommentar und das Teilen Deiner Erfahrung!! Ich wollte gerade schreiben: „Schön, dass es Dir auch so gegangen ist!“ – aber das ist natürlich überhaupt NICHT SCHÖN!! Im Gegenteil. Aber schön, dass ich nicht die einzige bin, die hier blöde Erfahrungen gemacht hat.
      Lustigerweise ist es gar nicht so Maike Plath inspiriert, sondern dies sind Gedanken, die mir im Prinzip SEIT JAHREN durch den Kopf gehen, die ich nur schwer auszusprechen finde / wage wegen der Angreifbarkeit, die man damit generiert (sich mit seinen Gedanken raus zu trauen erfordert auch immer, im Zweifelsfall mental gegen einen Shitstorm gewappnet zu sein). Aber ich probiere mein Bestes 🙂 Aber Maike Plath verfolgt sicherlich einen ähnlichen Track diesbezüglich, und das finde ich super.

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