Impro als Brennglas für Verbundenheit, Verletzlichkeit und Durchlässigkeit

Nachdem ich sie zuerst auf einem Flohmarkt hier in der Nachbarschaft nicht gekauft habe, habe ich mir letzte Woche nachträglich die „Psychologie Heute“ vom Januar 2021 über eBay Kleinanzeigen bestellt. Ich wollte unbedingt den Leitartikel zum Thema „Sehnsucht nach Verbundenheit“ lesen, da mir das so ein Herzensthema ist und mich nun schon seit einigen Jahren umtreibt – sei es, als Thema in meinem eigenen Leben, als auch allgemein, global, politisch, philosophisch, gesellschaftlich.Obwohl ich leider feststellen musste, dass der Artikel für meine Begriffe etwas an der Oberfläche der Thematik bleibt, habe ich einige interessante Impulse für mich dort heraus gezogen und einige Gedanken im Nachgang dazu gehabt, die ich an dieser Stelle teilen möchte. Da ich hier nicht den gesamten Artikel nochmal zusammenfassen möchte, empfehle ich jedem, der sich dafür interessiert, sich den Artikel selbst zu besorgen (ich kann auf Wunsch auch eine eingescannte Kopie zuschicken). Ich möchte mich hier lediglich auf meine paar Aha-Erlebnisse im Zusammenhang mit dem Artikel beschränken.

Eine der für mich wichtigsten und interessantesten Erkenntnisse war, dass der Mensch nicht Zeit seines Lebens und in jeder seiner Beziehungen ein und derselbe Bindungstyp bleibt. Diese Ansicht herrschte bisher in der Psychologie vor und hat mich immer ein wenig mißmutig gestimmt, da ich sie sehr deterministisch finde. Aber laut Artikel zeigen neuere Forschungen und Studien, dass der Mensch in verschiedenen Beziehungen verschiedene Bindungsstile haben kann, und somit nicht Zeit seines Lebens auf den einen Bindungsstil festgelegt ist, der irgendwann in der Kindheit mal in der Kernfamilie oder mit der engsten Bezugsgruppe geprägt wurde.

Eine weitere, äußerst spannende Erkenntnis war für mich, dass dieser Bindungsstil (innerhalb einer Beziehung) eben nicht nur ausschließlich davon bestimmt wird, welcher Bindungstyp ich bin, sondern auch davon, was der andere für ein Mensch ist – dass der Fokus also weg vom Individuum und seiner eigenen Befindlichkeit, hin zur Beziehung, zum Raum dazwischen, zur Co-Kreation zwischen zwei Menschen, ging. Und dass deshalb eben jede Beziehungen zwischen jeden zwei möglichen Menschen einzigartig ist, und nicht vom Bindungsstil des einen oder anderen bestimmt wird.

Beides sind Erkenntnisse, die mir mein „gesunder Menschenverstand“ schon irgendwie immer gesagt hat, aber die wissenschaftliche Psychologie deckt sich nicht immer mit dem, was mein gesunder Menschenverstand sagt (Note to self: Im Zweifelsfall dem eigenen Gesunden Menschenverstand mehr vertrauen).

Die aber für mich interessanteste Erkenntnis im Zusammenhang mit dem Artikel hatte ich heute im Laufe des Tages: Im Artikel wird u.a. Brené Brown zitiert, die mit ihrem TED-Talk „The Power of Vulnerability“ ein Millionenpublikum erreicht und inspiriert hat (ich muss jedes Mal weinen, wenn ich diesen TED-Talk sehe). Brown hat ein Buch zum Thema „Verletzlichkeit und wie wir sie mehr zeigen können“ (dies sind meine Worte; der originale Titel: „Verletzlichkeit macht stark. Wie wir unsere Schutzmechanismen aufgeben und innerlich reich werden.“) geschrieben und in diesem Buch benennt sie fünf Schutzstrategien, die wir benutzen, um uns vor Verletzlichkeit zu schützen bzw. vor (gefürchteten) Verletzungen zu schützen. Und beim Nachdenken über diese fünf Strategien ist mir aufgefallen, dass mir einige davon aus einem anderen Kontext bekannt vorkommen – nämlich aus dem Impro!

Hier wurde für mich wieder klar, wie sehr „Impro“ doch ein Vergrößerungsglas für unsere sozialen Interaktionen, für unser soziales Miteinander ist! Die gleichen Dinge, die uns im „normalen Leben“ davon abhalten, uns verletzlich zu zeigen (ich finde das Wort „durchlässig“ fast ein bisschen schöner als „verletzlich“) und mit anderen eine gute, schöne und stabilisierende Verbindung eingehen zu können, kommen im Impro immer dann zum Einsatz wenn man bemerkt, dass die Szene bzw. die Geschichte irgendwie nicht richtig schön voran geht. Namentlich sind dies z.B. Perfektionismus – eines der ersten Dinge, die man im Impro lernt ist, sich von perfektionistischen Ansprüchen zu befreien und Fehler nicht nur zu akzeptieren, sondern zu feiern. „Be average!“ gibt z.B. Keith Johnstone als Credo fürs Spielen aus; versuche nicht, Dein Bestes zu geben (denn dann wirst Du immer scheitern), sondern versuche, durchschnittlich zu sein.

Die nächste Strategie, die uns im Alltag davon abhält, uns verletzlich zu zeigen, und uns auf der Bühne davon abhält, schöne Szenen zu spielen, ist „emotionale Betäubung“ – es gibt Spieler, die meiden Emotionalität bzw. auf der Bühne emotional zu werden und Gefühle zu zeigen, wie der Teufel das Weihwasser. Genauso gibt es Leute, die im Alltag ihre Gefühle mit verschiedenen Strategien „betäuben“.

Eine dritte Strategie, sich vor Verletzlichkeit zu schützen, sind Zynismus, Kritik und Status (nicht der Impro-Status; dazu gleich mehr). Vor allem Zynismus und Kritik, sich von-oben-herab-lustig-machen und die Szene / Geschichte / Figur nicht ernst nehmen sind Gift für jede schöne Improvisation. Auch sie schützen uns jedoch vor Durchlässigkeit auf der Bühne – und im Leben.

Und last but not least gibt es noch eine Strategie, die Brown „Täter und Opfer“ nennt, und meint dass „wer in Kategorien von Macht und Ohnmacht denkt, erlaubt sich keine Verletzlichkeit und damit Verbundenheit“ (vgl. Psychologie Heute, Januar 2021, S. 20). Vielleicht ist es hier nicht 1:1 das Gleiche, aber es ist, als ob man in einer Szene den Figuren keinen Status-Wechsel erlaubt – denn erst der Statuswechsel macht eine Geschichte interessant und berührend. Bleibt der Status der Figuren statisch, wird es langweilig und berührt Spieler und Zuschauende wenig.

Vielleicht sind nicht alle diese Dinge 1:1 übertragbar, dennoch erkenne ich hier große Parallelen – und für mich zeigt sich hiermit wieder, was für ein großartiges Brennglas das Impro-Spielen für unsere sozialen Fähigkeiten und unsere sozialen Interaktionen birgt; und was für eine großartige Spielwiese, spielerisch Dinge auszuprobieren, die dann auch im „echten Leben“ von so großem Wert sind! Keith Johnstone hat mal in einem Workshop gesagt: „Theatre should be an exhibition of good nature!“ und „If you’re on stage, you are a represetnative of the human race!“ Daran hat mich das erinnert.

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