Gedanken über Impro, Abwehr, Ego, Ängste und das, was jenseits des inneren Zensors liegt

Dieser Beitrag schließt gedanklich quasi nahtlos an meinen letzten Artikel von vor drei Wochen an. Mich treibt nach wie vor das Konzept um, dass die Menschen im Kontakt mit anderen i.d.R. eine Fassade zeigen, eine Rolle spielen, so wie Erving Goffmann das z.B. in „Wir alle spielen Theater“ beschreibt. Harald Schmidbauer spricht von der „manischen Abwehr„, und die geht m.E. mit dieser Fassade bzw. Rolle Hand in Hand (wenn auch beide nicht das gleiche sind). Die manische Abwehr dient dazu, die Fassade, die ich nach außen gebe, aufrecht und intakt zu halten. Allerdings merken Menschen natürlich, dass das an Grenzen stößt und ihre Fassade nicht in allen Situationen passt / adäquat ankommt. Dann sehen sie Verbesserungs- und Veränderungsbedarf, aber eben witzigerweise an dieser „Hülle“, ich nenne sie der Einfachheit halber mal „Außenperson“. Was möglicherweise daran liegt, dass sie diese „Außenperson“ für ihr festes, unabänderliches Ich halten, für ihre Identität. Ausgangspunkt des folgenden Gedankenganges war der Eindruck, den ich mitunter von Menschen habe, die im Bereich Coaching / Training / Kommunikation arbeiten, dass sie eben versuchen, neue Rezepte und Verhaltensanweisungen zu geben, die sich jedoch alle im Bereich dieser „Außenperson“ abspielen und lediglich die Hülle, die Fassade verändern sollen. *

Fürs Impro heißt das, dass das große Geheimnis fürs Spiel im Grunde genommen nur ist, diese Fassade für die Zeit des Spiels fallen zu lassen und den Teil der Person zu zeigen, der hinter der „manischen Abwehr“ steckt – und zwar bewertungsfrei / wertfrei. Im Impro sprechen wir hier lieber vom „inneren Zensor“, und die wirkliche Improvisation kann im Grunde nur dann stattfinden, wenn wir aus den Quellen schöpfen, die „hinter“ oder „jenseits“ des inneren Zensors liegen. Das kann dann auch mal ein abgeschmacktes Klischee und Political Incorrectness sein. Aber ich halte wenig davon, diese Sachen zu verbergen und zu verdrängen und den inneren Zensor diesbezüglich aktiv zu lassen, denn existieren tun diese Gedanken und Ideen ja sowieso – auch darüber schrieb ich an anderer Stelle bereits. Wenn man bei der Improvisation aus den Quellen schöpft, die jenseits dieses inneren Zensors liegen, und die „manische Abwehr“ aufgibt bzw. die Goffmann-Fassade fallen lässt, kann man m.E. alle „Tugenden“ und Skills der Improvisation, die als so wichtig und als Schlüsselqualifikationen erachtet werden, umsetzen: Schnelligkeit im Spiel, Intimität (zwischen den Figuren), Wahrhaftigkeit, „plappern“ (oder auch: Small Talk als Character Key), Kontakt (zwischen den Spielern) und Umgang mit Störern / Saboteuren (denn in dem Moment, in dem ich das Angebot meines Mitspielers nicht mehr als Torpedieren meines Plans werte, das es abzuwehren gilt, oder gar als Angriff auf mich / meine Person / mein Ego – das Ego ist am Ende des Tages nichts anderes als das Bild, das ich von mir habe, diese „Außenperson“ – gibt es keine „Störer“ und „Saboteure“ mehr, dann ist wirklich alles ein Angebot).

Die anderen „Regeln“, die wir ausgeben, sind nur Hilfsmittel dafür: Das Akzeptieren („Ja Sagen“) soll uns darin unterstützen, aus den Quellen jenseits dieses inneren Zensors zu schöpfen, da wir das von außen Kommende erst einmal annehmen und darauf (ad hoc) reagieren (wollen). Die Fehlertoleranz ist eine notwendige Voraussetzung dafür, aus den Quellen jenseits des inneren Zensors zu schöpfen, denn sonst ist die Angst viel zu groß, dass sich dahinter etwas „Falsches“ verbergen könnte (z.B. Political Incorrectness). Auch die Political Incorectness ist in diesem Sinne als „Fehler“ nach dem Prinzip „Scheiter heiter“ zu bewerten und zu behandeln. Und last but not least den anderen gut aussehen lassen – auch dies soll den Fokus der Aufmerksamkeit von unserem Zensor weg lenken auf das Wohlbefinden des Spielpartners und das Vorankommen der Szene.

Gelingt es einem Spieler wirklich, aus dem Fundus jenseits des inneren Zensors zu schöpfen, beherzigt er diese drei o.g. Regeln meist automatisch, es geht gar nicht anders. Im Prinzip ist das die Impro-Haltung und das, was es in Workshops zu trainieren gilt! Bühnen-Verhalten jenseits des inneren Zensors hervorbringen. Alles andere ist „Mechanik“ und hält die Fassade der eigenen Person (und damit die manische Abwehr oder auch den inneren Zensor) aufrecht. Wir spielen dann unsere „Außenperson“-Rolle und darauf aufgesetzt noch die Rolle einer Impro-Figur.

Aber was heißt das nun für die Übertragung der Impro-Tugenden / -Haltungen auf unser „normales Leben“? Ist es nicht gefährlich, die „manische Abwehr“ bzw. den inneren Zensor, die Goffman-Fassade außer Kraft zu setzen? Diese Dinge haben ja bisher eine scheinbar notwendige Funktion erfüllt. Nun ja, meine persönliche Meinung ist, dass das durchaus das Ziel / der Übertrag ist, den es vom Impro ins normale Leben mitzunehmen gilt: Auch hier einmal den inneren Zensor abzuschalten und die manische Abwehr fallen zu lassen, und die Person zu sein, die man jenseits dieser „Goffman-Fassade“ ist. Das ist m.E. genau das, was mit Durchlässigkeit gemeint ist! Was mich betrifft, so habe ich jetzt endlich das Gefühl, diesen Begriff „Durchlässigkeit“ in seiner vollen Tragweite erfasst zu haben**. Das bedeutet natürlich auch, dass man schutzloser ist, und dass einen Dinge (Angriffe, Kränkungen etc.) aus der Außenwelt mehr treffen und mehr verletzen können. Um damit langfristig klar zu kommen, gilt es im Grunde, unsere Kränkungsverarbeitung, Frustrationstoleranz oder auch: Resilienz zu trainieren. Das ist das, worauf Impro (wenn man seine Tugenden von der Bühne ins normale Leben überträgt) im Endeffekt hinaus läuft: Resilienz aufbauen / trainieren. Und das ist hart und tut weh. Und es ist etwas, das ich niemandem „verordnen“ oder „aufzwingen“ will, denn jeder Mensch weiß selbst am besten, wie viel er aushalten kann und wie viel Schutz / (manische) Abwehr er noch braucht. Aber am Ende des Tages ist die „Lesson Learned“ vom Impro in den Alltag, die manische Abwehr runterzufahren, die eigene Resilienz zu trainieren um sich auch im Alltag, im „nicht bewertungsfreien Raum“ öffnen zu können und mit Kränkungen und Spitzen (die unweigerlich kommen werden) zurecht zu kommen. Aber es ist meine uneingeschränkte Empfehlung an jeden, das zuzulassen und zu trainieren. Denn es gibt so viel zu gewinnen! Genau wie im Impro gibt es Kontakt (echten), Spontanität, Präsenz und Wohlbefinden zu gewinnen! Und zwar „authentisches“ Wohlbefinden, nicht solches, das auf einer Hülle / einer Fassade unserer vermeintlichen Person basiert, und deshalb sehr anfällig für Störungen und Knackse / Risse ist.

 

*Natürlich gibt es – glücklicherweise – auch einen Haufen Trainer und Coaches, die das nicht tun – und auch in meiner Arbeit ist das das Ideal, an dem ich mich orientiere.

** Roland Trescher nutzt in diesem Kontext sehr passend das Englische Wort „surrender“, was auch so viel heißt, wie sich dem Moment mit Haut und Haar hingeben, und nicht dagegen kämpfen.

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One thought on “Gedanken über Impro, Abwehr, Ego, Ängste und das, was jenseits des inneren Zensors liegt

  • By Sarah - Reply

    Danke für den tollen Artikel! Du hast anschaulisch beschrieben, was ich schon oft im Hinterkopf hatte, aber nie in Worte fassen konnte. Ich sehe die Resilienz dabei im direkten Zusammenhang mit dem eigenen Selbstvertrauen und dem Selbstwergefühl.
    Danke für die Inspiration!

    Lg,
    Sarah

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