Improvisationstheater spielen ist ein bisschen wie Stockholm-Syndrom…

Ich weiß, der Titel wirkt möglicherweise auf einige Leser etwas… abstoßend oder löst vielleicht sogar Widerstand aus. Dessen bin ich mir bewusst. Deshalb: Lasst mich erklären, was ich meine:

Was mich am Impro-Theater immer mit am meisten fasziniert und beschäftigt hat, ist das Thema „Akzeptieren“ – ich meine damit die Haltung oder Herangehensweise, die Angebote der Mitspieler (oder des Publikums) anzunehmen und weiter zu führen – statt seine eigenen Ideen „durchdrücken“ zu wollen. Die Anwendung dieser Haltung, auch außerhalb der Impro-Bühne, hat mein Leben verändert! Ich will nicht sagen, dass plötzlich alles so „leicht“ war (denn das wäre gelogen), aber es hat sich seitdem für mich tatsächlich so gut wie alles verändert. Viele meiner Mit-Improvisateure sehen das „Akzeptieren“ lediglich als ein grundlegendes Handwerkszeug an und finden stattdessen an anderen Aspekten von Impro Gefallen oder sind davon fasziniert (denn Impro bietet ja wirklich eine ganze Menge Dinge, die einen faszinieren können). Manch einer praktiziert das Akzeptieren vielleicht auch hier und da außerhalb der Bühne, der andere eher nicht so, weil es für ihn klar zur Sphäre des Impro-Theaters gehört und darauf begrenzt ist – bzw. weil er vielleicht außerhalb der Impro-Bühne dafür auch keine Notwendigkeit oder keinen Nutzen sieht. Vielleicht muss man eine gewisse persönliche bzw. psychologische Disposition mitbringen, um genau vom Thema „Akzeptieren“ so angefixt zu sein, und vielleicht bringe ich genau diese Disposition ja mit, weil es mich so anfixt.

Vor Kurzem dann fiel mir erneut das Buch „Theater ohne Absicht“ von Gunter Lösel (Impuls-Theater Verlag, Planegg 2004, ISBN 9783766091048) in die Hände, und ich las noch einmal den Teil über „Reaktanz“ – ein Begriff, der mir vor diesem Buch gänzlich unbekannt war, der aber viel mit dem „Akzeptieren“ zu tun hat, ja, wesensgemäß mit ihm verbunden ist. „Reaktanz“ bezeichnet den Widerstand, den Menschen an den Tag legen, wenn sie sich in ihrer Wahlfreiheit und Autonomie eingeschränkt sehen.* Dies kann sich in Trotz, Verweigerung, Aggression, absichtlichem Versagen, plötzlichen Unfällen und Gebrechen, Hochstatusverhalten oder Ablenken äußern (vgl. Lösel, Planegg 2004, S. 42). Die Reaktanz ist damit gewissermaßen der Gegenspieler zur Akzeptanz. Ihr eigentlicher Sinn und Zweck ist eine wichtige psychische Schutzfunktion, nämlich das Streben nach Selbstbestimmung und Autonomie. Die meisten von uns entwickeln im Laufe ihrer Sozialisation den Wert, nicht mehr fremdbestimmt – d.h. selbstbestimmt – sein zu wollen. Ich würde sogar so weit gehen zu behaupten, dass dies ein grundlegender Pfeiler der menschlichen Existenz, ein grundlegendes menschliches Bedürfnis, und damit im Prinzip etwas Wichtiges und Sinnvolles ist.

Menschen, die – aus welchen Gründen auch immer – gelernt haben, eine besonders starke Schutzbarriere an den Tag zu legen, vielleicht, weil ihre Autonomie und Selbstbestimmung in der Vergangenheit häufig in Gefahr war oder gar keinen Platz hatte / haben durfte, zeigen i.d.R. auch eine besonders starke Reaktanz. Wenn ich meine Selbstbestimmung und Autonomie permanent bedroht und in Gefahr sehe, weil das eine Erfahrung ist, die ich irgendwann in der Vergangenheit vielleicht gemacht habe, dann reagiere ich besonders oft und häufig aus dem Affekt heraus mit „Nein“, um mir das Gefühl der Selbstbestimmung zu wahren.** Vielleicht öfter, als es notwendig und sinnvoll ist, so dass ich mir mit meinem Verhalten, das mir eigentlich meine Freiheit bewahren soll, Chancen verbaue und damit am Ende des Tages meine Optionen und ergo auch meine Freiheit einschränke – also genau das Gegenteil von dem erreiche, was ich möchte. Für diese Menschen kann es eine große Herausforderung sein, sich „absichtlich“ fremdbestimmen zu lassen und „Ja!“ zu sagen – aber auch eine große Erleichterung (es spart unglaublich viel Energie, mal nicht im Widerstand zu sein! Ich weiß, wovon ich spreche…) und eine große Chance! In solchen Fällen kann es für mich Türen öffnen, wenn ich meinem ersten Impuls zum Schutz, zur Abgrenzung und zum „Nein-Sagen“ einmal nicht folge, und just for fun einfach mal akzeptiere, was der andere mir anbietet und mich also absichtlich „fremdbestimmen“ lasse. Und genau das ist es, was die ganze Zeit beim Impro-Theater passiert! Indem wir die Angebote unserer Mitspieler immer wieder zuerst einmal annehmen (um ggf. im zweiten Schritt etwas hinzu zu fügen), lassen wir uns durch sie ein Stück weit fremdbestimmen. Menschen, die das schwer aushalten können, werden Probleme beim Improvisieren auf der Bühne haben.***

Und hier kommt jetzt der andere Aspekt aus der Überschrift, das „Stockholm-Syndrom“ ins Spiel. Beim Impro geht es nicht nur darum, uns bereitwillig von den Mitspielern „fremdbestimmen“ zu lassen, sondern dies auch noch zu lieben! Dieses Verhalten, das uns auf der Bühne abverlangt wird, ist damit konträr zu dem, das wir für gewöhnlich im Alltag an den Tag legen! Nicht nur sollen wir uns „fremdbestimmen“ lassen, nein, wir sollen dies auch noch umarmen und bereitwillig mit uns Geschehen lassen, unsere eigenen Ideen und Vorstellungen zurück stellen und „mitspielen“. Das ist in gewisser Weise nichts anderes, als das Stockholm-Syndrom, bei dem ein Gefangener / eine Geisel lernt, ihren Kidnapper zu lieben, seine Ziele und Motivationen zu verstehen um am Ende möglicherweise sogar mit ihm zu sympathisieren. Eine psychische Schutzfunktion, die sich einstellt, wenn unsere eigene Autonomie und Wahlfreiheit zu sehr in Gefahr zu sein scheint! Unsere Psyche möchte glauben, dass sie unabhängig ist und Wahlmöglichkeiten hat, auch wenn dies bedeutet, dass wir unser Wertesystem einmal auf den Kopf stellen müssen. Diese „Illusion“ ist für die Psyche scheinbar überlebenswichtig bzw. das Ohnmachtsgefühl, das sich sonst einstellte, unaushaltbar. Und genau diese Fähigkeit benötigen wir auch, wenn wir auf der Bühne Impro-Theater spielen wollen: Den Drang, nach eigenen Ideen und Vorstellungen zu handeln, zu kontrollieren und das Geschehen bzw. in erster Linie erstmal unser eigenes Verhalten (beim Impro-Theater: Unsere Rolle) zu bestimmen, zurückstellen und stattdessen annehmen, was der Mitspieler uns anbietet und darauf reagieren. Unsere eigene Selbstbestimmung und Autonomie absichtlich zurückstellen, um den Ideen und Vorschlägen der Mitspieler zu folgen. Wenn alle Spieler dies bis zu einem gewissen Grad tun (vgl. Fußnote ***), dann kann so etwas wie „Flow“ entstehen, und die „Minds“ der einzelnen Spieler werden zu einem „Group mind“, einer Art kollektiver Ekstase, die sich nur dann einstellt, wenn ich mich darauf einlassen kann, mich auf der Bühne „fremdbestimmen“ zu lassen. Mir fällt dann immer Roland Trescher ein, der hierfür den englischen Begriff „surrender“ nutzt, der hier m.E. sehr gut passt: sich der Szene und allem, was darin passiert, mit Haut und Haaren ergeben bzw. hingeben. Genau wie beim Hoch- und Tiefstatus ist dies ein Spiel mit Macht und Ohnmacht.

Und deshalb, liebe Leser, finde ich, dass Impro-Spielen ein bisschen wie Stockholm-Syndrom ist: Wir lernen beim Impro, uns nicht nur von anderen definieren zu lassen und ihren Ideen zu folgen, sondern diese auch noch zu umarmen und zu lieben – entgegen unserem ursprünglichen Impuls zur Abgrenzung und Selbstbestimmung. Und natürlich immer nur in unserer Rolle auf der Bühne…

 

* Wenn z.B. – ob innerhalb einer Impro-Szene oder im „normalen Leben“ – eine Person eine andere fragt: „Möchten Sie Tee?“ – kann man sicher sein, dass die andere Person mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit antwortet: „Nein, Kaffee!“ Dies ist ausschließlich eine Reaktion auf die wahrgenommene Einschränkung der Wahlfreiheit, denn möglicherweise trinkt die Person sogar lieber Tee. Formuliert Person 1 die Frage als offene Frage („Was möchten Sie trinken?“) ist die Wahrscheinlichkeit deutlich höher, dass Person 2 wahrheitsgemäß mit „Tee!“ antwortet. (Beispiel entnommen von Gunter Lösel, der sich hier auf Keith Johnstone bezieht).

** Das ist wahrscheinlich der Grund, warum der Aspekt der „Akzeptanz“ beim Impro-Theater in so starke Resonanz mit mir geht.

*** Natürlich ist unendliche Harmonie auch nicht auszuhalten, und Szenen, in denen alle Spieler immer nur permanent alles akzeptieren, was die Mitspieler ihnen anbieten, können langweilig und fad werden. Deshalb ist, wie auch schon Gunter Lösel (erneut im Bezug auf Keith Johnstone) in seinem Buch fest stellt, auch ein Block beim Improvisieren hier und da mal hilfreich, um neue Impulse in die Geschichte zu bringen und der Sache einen neuen bzw. anderen Drive zu geben (vgl. Gunter Lösel, Planegg 2004, S. 52 ff.). Das Blockieren ist quasi das Salz in der Suppe – aber auf die Balance kommt es an, und darauf, dass die Spieler eben als eine der Grundfertigkeiten im Impro in der Lage sind, Angebote erst einmal anzunehmen (anstatt ihrem ersten Impuls der Reaktanz zu folgen, können sie diesen zurückhalten), und dann kann man auch wieder blockieren; „blindes“, d.h. Impuls-gesteuertes Blockieren, das die Spieler nicht abstellen können, ist auf der Impro-Bühne weniger hilfreich.

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