Gedanken über Authentizität

In den letzten Wochen und Monaten ist mir in meinem Leben in verschiedenen Kontexten immer wieder der Begriff „Authentizität“ über den Weg gelaufen. Die einen sind glühende Verfechter von Authentizität und fordern mehr davon, die anderen halten mehr Authentizitt für eine Schwachsinnsforderung. Ich finde, für beide Positionen gibt es gute Argumente und deshalb habe ich überlegt, wo ich mich in dieser Thematik eigentlich positioniere… Und ich bin zu folgendem Schluss gelangt: Die Forderung nach Authentizität (bzw. die Authentizität selbst) erfordert ein gewisses Maß an geistiger bzw. psychischer Gesundheit.

Zuerst einmal vielleicht kurz zur Begriffsklärung: Was ich denke, was die meisten mit „Authentizität“ meinen, wenn sie davon sprechen, ist, dass Gefühle und Gemütsregungen, die jemand im Inneren hat, auch nach außen gezeigt und nicht versteckt werden. Wenn jemand z.B. traurig ist, dies auch zu zeigen (durch Weinen z.B. oder zumindest durch verbales Aussprechen der Traurigkeit). Oder wenn jemand wützend ist, dies zu artikulieren und seinen Mitmenschen mitzuteilen, was der Grund seiner Verärgerung ist.

Und hier kann es eben genau schwierig werden, nämlich wenn jemand z.B.

  • eine schlechte Impulskontrolle hat (Menschen, die schnell wütend/aggressiv werden und dies nach außen hin nicht gut kontrollieren können)
  • depressiv ist (niedergeschlagene und antriebslose Menschen)
  • paranoide Tendenzen hat (Menschen, die die Schuld und Verantwortung für ihr Übel das Unlgück der Situation stets bei anderen suchen, um sich selbst vor sich selbst schadlos zu halten)
  • egozentrisch / narzisstisch veranlagt ist
  • extraum launisch / zickig ist
  • arrogant ist und andere Menschen innerlich stark herabsetzt

… dann wird mensch mit diesen Verhaltensweisen in aller Regel bei anderen und in Gesellschaft sehr stark anecken. Das ist ja genau der Grund, wesehalb solche Menschen sich eine Rolle / eine Maske zugelegt haben, hinter der sie diese Dinge verbergen können und eben gerade NICHT das sind, was man landläufig „authentisch“ nennt. D.h. sie zeigen gerade nicht ihre Gefühle, die sie im Inneren verspüren, nach außen – im Gegenteil, sie versuchen, ihr gesamtes körperliches Verhalten zu kontrollieren und ihre inneren Regungen auch nicht verbal zu artikulieren, denn sie haben die Erfahrung gemacht, dass dies nicht gut ankommt. Natürlich sind solche Menschen nicht „authentisch“, und sie selbst wissen, warum.

Hinzu kommt ein weiterer Punkt: Um das nach außen zeigen zu können, was ich innerlich fühle, muss ich mir dessen erstmal bewusst sein. Häufig, oder für manche Menschen, ist es aber gar nicht so einfach zu bestimmen, was sie innerlich gerade fühlen, wie es ihnen gerade geht, da sie nicht gelernt haben, diese Dinge wahr zu nehmen, sondern gelernt haben, nach außen zu funktionieren und „lieb“ bzw. angepasst zu sein. Hier muss erst ein Lernprozess stattfinden, um erstmal authentisch sein zu können.

Deshalb ist die Forderung nach mehr Authentizität m.E. nicht so einfach in der Praxis umzusetzen, wie deren Verfechter sich das vorstellen oder wünschen, denn diese „Störungen“ sind als psychische Normalität m.E. weiter verbreitet, als allgemein bekannt ist oder anerkannt wird (ein großes Tabu). Deshalb macht die Forderung nach „mehr Authentizität“ m.E. nur für Menschen Sinn, die einen gewissen Grad an psychischer Gesundheit errreicht haben (und diesen auch den anderen unterstellen).

Authentizität heißt aber auch, mit allen seinen Vorurteilen, Stereotypen und der gesamten eigenen geistigen Landkarte in den Ring der Konversation einzusteigen, und unbefangen und frei von der Leber weg zu plaudern. Jedoch sind Vorurteile und Stereotypen aktuell heftigst verpönt, so dass mensch u.U. mit heftigem Gegenwind in der Konversation rechnen muss. Nicht jeder möchte das, hat die Kraft dazu oder fühlt sich dem gewachsen. Und so wird die Konversation schnell wie ein Tanz auf rohen Eiern, bei dem es gilt, die eigentlichen Impulse und Meinungen erstmal durch den berühmten inneren Zensor (den wir auch vom Impro kennen) laufen zu lassen, bis man sich in seinem Umfeld so sicher fühlt, diese Vorurteile und Meinungen ungestraft und unkommentiert äußern zu dürfen. Sicherlich ist es gut, Menschen auf ihre blinden Flecken in Form von Vorurteilen, Stereotypen usw. hinzuweisen – nicht jeder hat jedoch die Kraft oder den Willen, damit umzugehen. Und so ist dies der Authentizität nicht unbedingt förderlich. Und so wird auch hier die Forderung nach mehr Authentizität zum Prüfstein für einen gewissen Grad an geistiger Gesundheit.

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