Den anderen so sein lassen, wie er ist

„Du bist so kompliziert!“ – diesen Satz habe ich in meinem Leben von verschiedenen Menschen und zu verschiedenen Zeiten immer wieder gehört; dabei finde ich mich selbst überhaupt nicht kompliziert! Wenn man in der Interaktion mit mir ein paar einfache Regeln beachtet: 1. Ich möchte nicht „erzogen“ werden; bitte versuche nicht, mich zu verändern, schon gar nicht, wenn ich Dich nicht darum bitte. 2. Kein Klugscheißen – Besserwisser und Klugscheißer nerven elendig und der Klügere gibt ja angeblich nach (not…). 3. Päppel‘ mein Selbstwertgefühl auf! – Wenn man diese drei „einfachen“ Regeln beachtet, bin ich im Umgang der einfachste Mensch der Welt. Und ich möchte mal behaupten, dass dies eigentlich jedem Menschen so geht… Jedenfalls irgendwie jedem, den ich kenne oder der mir gerade einfällt. In diesem Sinne hier mal (ausnahmsweise) ein Bild, das einfach zu gut passt (und das mir die liebe Sarah Bansemer vor einiger Zeit mal hat zukommen lassen):

In meiner langjährigen Coaching-Begleitung war einer der ersten Sätze, an den ich mich erinnere „Jeder Ratschlag ist ein Schlag“. Ich kannte diesen Ausspruch vorher nicht und habe ihn auch erst mit der Zeit verstanden, aber mittlerweile ist er zu einem meiner konstantesten gedanklichen Begleiter geworden (für diejenigen, die mit dem Satz nichts anfangen können: Es geht so sinngemäß darum, dass wenn ich jemandem [ungefragt] einen Ratschlag oder Lösungsvorschlag zu seinem Problem gebe, ich mit diesem Akt – so gut gemeint er auch sein mag – auch jedes Mal unterschwellig die Botschaft mit sende: „Du hast keine Ahnung, ich weiß es besser als Du, warum bist Du nur so blöd und checkst es nicht und machst es nicht so und so wie ich schlauer Mensch es sage.“ – und das ist eine Art verbaler Schlag ins Gesicht; darüber hinaus stelle ich mich ein bisschen über die Person mit dem Problem, da ich mir anmaße, eine doch so einfache Lösung für sein Problem zu haben, mit dem er sich rumschlägt und er offenbar nur zu blöd ist, diese einfache Lösung zu sehen / umzusetzen). Nicht zuletzt suggeriert dieser Spruch, dass ein (ungefragter, ungebetener) Ratschlag auch stets mit kommuniziert: Was Du gerade machst  (um Dein Problem zu lösen oder auch gerade nicht zu lösen) ist nicht in Ordnung, hier ist meine Meinung, wie Du Dich anders verhalten sollst, um Dein Problem zu lösen – oder m.a.W.: Sei anders! Und dieses „Sei anders!“ ist für die meisten Leute ein Schlag ins Gesicht, ich kenne kaum jemand, der das gerne hört – denn hier schwingt die Botschaft mit: Wie Du gerade bist, ist nicht in Ordnung.

Und nachdem ich die Bedeutung dieses Satzes nun einmal erfasst hatte, verstand ich plötzlich, warum mich Zeit meines Lebens (ungefragte) Ratschläge und Lösungsvorschläge so latent aggressiv gemacht haben. Ich weiß nicht warum, aber ich bringe von Hause aus eine besondere Empfindlichkeit mit, wenn ich das Gefühl habe, dass ich (ungefragt) „verändert“ oder „erzogen“ werden soll und reagiere hier latent ungehalten (zumindest innerlich und manchmal kann ich es nicht verhindern, dass etwas davon nach außen dringt). Das hat irgendwie mit meiner Biografie und Sozialisation zu tun.

So erklärt sich auch meine große Liebe zu Impro, denn hier gilt als eines der Grundprinzipien das Prinzp „Akzeptanz“ – den anderen nicht verändern wollen, sondern seinen Output, seine Angebote aufnehmen und weiter führen – anstatt permanent „korrigiert“ zu werden und verändert werden zu wollen. Für mich war das eine unfassbar heilsame Erfahrung – endlich mal so sein „dürfen“, wie man ist.

Und obowhl – so behaupte ich mal – niemand gerne Ratschläge bekommt und Erziehungsversuche („Du sollst anders sein, als Du bist! Verhalte ich anders!“) mag, so mache ich doch gleichzeitig in meinem Umfeld und Alltag eigentlich permanent die Erfahrung, dass Menschen unermüdlich Ratschläge geben und klugscheißen und andere Menschen eben gerade NICHT so sein lassen wollen, wie sie sind – oder m.a.W.: andere Menschen verändern wollen. Woher kommt das?? Sicher, vielfach entstehen Ratschläge sicherlich aus dem Wunsch heraus, der anderen Person „helfen“ zu wollen, also mit wirklich guter Intention. Dennoch: Wäre es nicht vielleicht in den meisten Fällen hilfreicher und heilsamer, den anderen einfach erstmal so sein zu lassen, wie er ist? Gibt ihm dies nicht ein besseres Gefühl, er entspannt sich und die Beziehungsebene wird gestärkt?

Darum gibt es doch gerade diesen schönen Grundsatz: „Kein Coaching ohne Auftrag“. Auch den habe ich lange nicht verstanden, weil ich dachte, es ist doch toll, wenn jemand die Tools hat, andere Menschen und die Welt (zum Positiven) zu verändern und das auch tut. Aber was dieses „Positive“ ist, schon allein darüber gehen die Meinungen sicherlich auseinander – und wer bin ich, mir anzumaßen, was für eine andere Person gut und positiv ist? Auch dies ist ja wieder eine paternalistische Einschätzung. Hinzu kommt, dass jedes scheinbar ungeliebte Verhalten nicht nur negative Auswirkungen für die Person hat, sondern meistens auch irgendwelche verdeckten positiven Effekte (sog. „sekundärer Krankheitsgewinn“), und möglicherweise öffnet man die Büchse der Pandora erst recht, wenn man diese positiven Effekte ungewollt „weg macht“.

Warum tun wir es dann immer und immer wieder, dass wir andere eben gerade nicht so sein lassen wollen / können, wie sie sind? Ich habe leider keine abschließende Antwort auf diese Frage, aber ich glaube, es hat mit unseren Werten und den daraus resultierenden Überzeugungen zu tun! Jeder von uns hat bestimmte Werte, denen er sich mehr oder weniger bewusst ist. Und diese bestimmen, wie wir das Verhalten anderer beurteilen, eben be-„wert“en. Und da gibt es eben manchmal Verhalten oder Verhaltensweisen von anderen, die mit unseren eigenen Werten im Konflikt stehen, was wir oft gar nicht so explizit formulieren können, was aber dennoch dahinter steht. Und aus diesem Konflikt entsteht ein Gefühl des Unwohlseins, das wir versuchen, „los zu werden“ – und wie versuchen wir es, los zu werden? Indem wir die andere Person bzw. ihr Denken, Empfinden, Verhalten verändern wollen, so dass es mehr im Einklang mit unseren Werten ist. Dies scheint mir ein sehr alltägliches und sehr menschliches Verhalten zu sein. Dennoch birgt es natürlich die Gefahr, dass der andere sich abgelehnt, „abgewertet“ und damit nicht gut fühlt. Deshalb ist die Frage: Wie viel Abweichung von meinen Werten kann ich aushalten? Diese Spanne zu trainieren und auszuweiten lohnt sich m.E. Dies ist schon ein Wert in sich selbst, diese Art von „Akzeptanz“ oder Toleranz. Und „Impro“ ist z.B. ein Weg, dies zu trainieren – und zwar auf eine spielerische Weise.

Und diese Akzeptanz oder „Toleranz“ fängt dann schon bei mir selbst an: Auch mir Dinge gestatten – wenn ich mit mir freundlich bin und mir Sachen, die mir (an mir) nicht gefallen (d.h. die vielleicht nicht im Einklang mit einem bestimmten Wert von mir stehen), gestatte, nachsehe und verzeihe, kann ich das auch leichter bei anderen tun. Diese Ambivalenz und Ambiguität bei Wertekonflikten zu ertragen und auszuhalten ist ebenfalls eine enorme Lernaufgabe.

 


Nachtrag 09.02.2021:

Paul Watzlawick unterscheidet in seinem berühmten ersten Axiom der Kommunikation zwischen Sach- und Beziehungsebene (Schulz von Thun unterscheidet in seinem bekannten „Vier-Seiten-einer-Nachricht“ Modell auch noch Selbstkundgabe- und Appell-Ebene – wobei diese bei genauerer Betrachtung auch nur Spielarten der Beziehungsebene sind), wobei letztere erstere trägt. Und dass die meisten Kommunikationsprobleme daher rühren, dass diese beiden sich vermischen. Aber ist es überhaupt möglich, Sach- und Beziehungsebene im Gespräch zu trennen? Ich denke nein. Ich denke, die Beziehungsebene spielt in jeder Kommunikation eine Rolle und kann (im Gespräch) nicht von der Sachebene getrennt werden (allerhöchstens danach, wenn man sich in eine Analyse des Dialogs begibt).

In nahezu sämtlichen Kommunikations-„Schulen“ (von Gfk über Schulz von Thun) wird nun gesagt, man solle nach den Motiven beim Sender der Botschaft schauen und versuchen, diese zu verstehen, um die eigene emotionale Reaktion (so denn heftig) etwas zu drosseln und „runter zu kommen“, Verständnis für den anderen entwickeln. Das macht sicherlich Sinn. Ist aber auch verdammt schwer. Insbesondere, wenn die emotionale Reaktion schneller ist, als der Verstand hinterher kommt mit dem Verständnis der Motive der anderen Person. Und die Emotion (das limbische System) ist immer schneller als der Verstand im Neokortex. Diesen berühmten „Raum“, den Victor Frankl zwischen Reiz und Reaktion verortet – gibt es ihn wirklich? Es gibt ihn, aber er ist ebenfalls ein Akt des Verstandes, der hier einen Keil zwischen Trigger und „Output“ setzt, was manchen Menschen offenbar leichter fällt, als anderen (der Psychologe spricht auch von „Impulskontrolle“, die Philosophin spricht vom „freien Willen“).

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